In diesen Tagen wäre Boy Lornsen, Autor zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt das Literaturhaus Schleswig-Holstein eine Festschrift heraus. Darin befasst sich Reinhard Goltz mit der Kraft des Satzes Mit rein gornox füng he an – das ist der Beginn von Lornsens plattdeutscher biblischer Geschichte „Sien Schöpfung“. Hier ein Auszug:
Ausgangspunkte sind die initialen Bibel-Stellen Im Anfang war das Wort (Johannes 1,1) bzw. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde (1. Mose 1,1). In seiner plattdeutschen Bibel-Übersetzung formuliert Johannes Jessen: In’n Anfang wär dat Word all dor bzw. Ganz in den Anfang hett Gott Himmel un Eer maakt. Ohne hier auf religionsphilosophische Diskurse einzugehen, offenbart ein Blick auf die Textoberfläche, dass sich Lornsen kaum an deutschen bzw. griechischen oder lateinischen Vorlagen orientierte. Er erfasste den Sinn der Aussage und suchte nach einer angemessenen Umsetzung, ohne dabei den „heiligen“ Charakter des Textes zu berücksichtigen.
Lornsen meidet das abstrakte Substantiv Anfang und setzt stattdessen das Verb anfangen, das hier in Form des flektierten Verbs füng und des Verbzusatzes an auftritt. Dieses Verb verlangt nun aber nach einem Subjekt. Unter einer Reihe von Möglichkeiten (wie Gott oder he oder dat) entscheidet sich Lornsen für das Personalpronomen he; diese Form hat den Vorteil, dass sie keine neue Bedeutungsebene eröffnet, sondern sich auf einen vorher erwähnten Ausdruck bezieht. Nur der Kontext sowie der vorangestellte Buchtitel Sien Schöpfung, der allerdings ebenfalls „nur“ mit einem Pronomen ausgestattet ist. Frappierend ist: die inhaltliche Zuordnung zu „Gott“ ist gewährleistet, auch wenn dieses Wort gar nicht genannt wird. Gleichzeitig lenkt Lornsen die inhaltliche Fokussierung mithilfe den Pronominalisierungen auf den Ausdruck mit rein gor nix.
Um das Prädikat anfangen und das Subjekt he baut Lornsen nun eine auffällige Syntax. Ganz vorn steht nicht das erwartbare Subjekt: He füng mit rein gor nix an. Vielmehr setzt er das Objekt mit rein gornix auf die Spitzenposition. Durch diese Topikalisierung lenkt der Autor die Aufmerksamkeit auf den Sachverhalt der Leere, wobei er nix in zweifacher Weise durch Gradpartikeln steigert – zunächst durch das semantisch verblasste gor, das eine weitere Verstärkung durch rein erfährt, bei dem der adjektivische Gehalt „makellos, unbeschmutzt“ noch präsent ist. Die Präposition mit sorgt schließlich dafür, dass die Leere im sprachlichen Bild materialisiert werden kann.
Fest steht: Wer mit so geringen Mitteln eine derart große Wirkung erzielen kann wie Boy Lornsen, ist ein wahrer Sprachkünstler